In letzter Zeit habe ich wieder viele Stunden in staubigen Archiven verbracht, woraus am Ende, um der Melancholie Herr zu werden, die Sinfonietta entstand, gewidmet „den Turiner Toten“. In deren Daten zu recherchieren, meist begrenzt auf die nackten Meldungen Nati – Morti – Matrimoni – glich einem Blättern im Buch des Lebens.
So heißen denn auch die ersten drei Sätze der kleinen Sinfonie. Der letzte dann heißt „Corinna“, ist jener unbekannten Geliebten Puccinis während der Jahre 1900 bis 1903 gewidmet.
Seit diesem Herbst glaube ich, dass es eine Art Schattenreich gibt, nicht eines der Toten, die sind tot für immer, sondern eines der Lebenden, ein sonderbarer Bereich sonst nicht verfügbarer Informationen. Teile der Sinfonietta versuchen dieses Schattenreich abgedämpfter Farben zu beschreiben, in das man nicht nur im Traum gelangen kann.
So sprach mich zum Beispiel ein bestimmtes Grabdenkmal auf dem Turiner Cimitero Monumentale bei jedem Besuch immer stärker an, über ein Jahrzehnt lang, und ich dachte, der, der da begraben liegt, (er war mir völlig unbekannt), muß etwas wissen über Corinna.
Jetzt stellte sich heraus, der Sohn dessen, der da lag, war im hohen Alter Corinnas bester Freund. Es läßt sich natürlich immer als Zufall abtun, selbst bei Hunderttausenden Toten vor Ort, und vielleicht ist es das auch. Die Musik, die ich dazu empfand, sollte eben nicht „creepy“ sein, oder gruftartig, sondern würdevoll, majestätisch, freundlich, beinahe heiter und dankbar.
Meine Dritte Sinfonie – oder Sinfonietta – ist stark geprägt von den Umständen der Komposition. Tagsüber in den Archiven tätig, wollte ich mir nachts die Stille und Melancholie vertreiben und unmittelbar in Musik verwandeln, was ich recherchiert hatte. Der Aspekt der COMIC MUSIC ist hier nur im dritten Satz greifbar, indem es ein paar Schmunzelstellen gibt, wenn plötzlich tonartfremde naiv anmutende Akkorde für Idyllen sorgen, die sofort aus sich selbst heraus, ohne weitere Modulation, ein groteskes Moment annehmen. Eine Art sublimer Slapstick, ein Spiel mit den feierlichen Erwartungen der Vorheiratszeit, ohne sich über diese lustig zu machen. Es ist ein Werk voller Verständnis, Nachsicht und Mitgefühl, geschrieben aus der Warte dessen, der so viele menschliche Schicksale betrachten durfte, komprimiert auf drei nackte Eckdaten des Lebens.
Diese Musik ist eben nicht neo-spätromantisch, sondern, wie auch ein Großteil meiner Literatur, ein neues Spiel mit alten Formen. Und ganz eigenen Ergebnissen. Der vierte Satz ist sehr schwelgerisch, eine Art Passacaglia, deren durchgängiges Motiv in den oberen Lagen erklingt, eine Hommage an jene Corinna und ihre Beziehung zu Puccini, die, wie man inzwischen weiß, nicht nur irgendeine vorrangig erotisch geprägte Affäre war, sondern ein bedeutender Einschnitt in Puccinis Biographie, der wegen Corinna beinahe seine Lebensgefährtin Elvira verlassen hätte, trotz des gemeinsamen Sohnes Antonio.
Schließlich hat er sich dem Verdikt seiner Entourage und des Verlegers und Ersatzvaters Giulio Ricordi gebeugt und sich mithilfe einer quasi in Auftrag gegebenen Schmierenkomödie von Corinna losgesagt, man muß sagen: losgestrampelt. Indem die junge Turinerin, die für Puccini ein Idol gewesen ist, deren Briefe er in Musik gesetzt hat, von gedungenen Detektiven als Hobbby-Prostituierte verleumdet wurde.
Anschuldigungen, die, wie inzwischen klar geworden ist, jeder Grundlage entbehrten, und nur dazu dienten, Puccini eine, wenn auch sehr schmerzhafte, Separation von der Geliebten zu ermöglichen. Für Corinna gab es immerhin ein Happy End, sie heiratete 1911 ihre nächste Liebe, einen Turiner Anwalt und Grafiker, der allerdings vor der Hochzeit von ihr verlangte, die Vertonungen der Liebesbriefe an ihren Gipy (Giacomo Puccini) zu verbrennen. Sie starb mit 92 Jahren, 1973, ohne jemals die Beziehung aus ihrer Sicht zu thematisieren und sich für die erlittenen Beschuldigungen zu rechtfertigen. Sie war das Gegenteil einer „niederen Kreatur mit Hureninstinkten“ wie Ricordi sie nannte, sie war gebildet, stilvoll und, so erzählt es die letzte Verwandte, die sie erlebt hat, immer sehr elegant gekleidet, wenn auch nicht von großer Statur.